Berufliche Orientierung als Krise begreifen

„Können Sie mir bitte sagen, wo ich hin will?“

Diese Frage wird Karl Valentin (Komiker, 1882 – 1948) zugeschrieben. Sie scheint als Überschrift zum Thema „Berufliche Orientierung“ passend zu sein.

 

Schwingt sie doch so oder ähnlich unausgesprochen mit, wenn zum Beispiel Jugendliche sich auf die Reise machen, um die passende Stelle, Berufsausbildung oder den passenden Studiengang zu finden.

 

Orientierungslosigkeit, Hilflosigkeit, Überforderung drücken sich darin aus sowie das Bedürfnis, im Dilemma der als krisenhaft erlebten Phase der beruflichen Orientierung an die Hand genommen zu werden, Beratende zu finden, die sich auskennen, die wissen, welche Schritte zu gehen sind, die führen, begleiten oder zumindest den Weg weisen.

 

Hier spiegelt sich der (zum Teil unbewusste) Versuch, die Verantwortung für die eigene berufliche Zukunft und die damit verbundene lebensverändernde Entscheidung, zumindest in Teilen, an andere abzugeben.

 

Das Ansinnen ist verständlich, wenn man bedenkt, dass es selbst für Berufs- und Lebenserfahrene herausfordernd sein kann,

  • die eigenen Kompetenzen zu benennen,
  • Neigungen zu identifizieren und
  • daraus berufliche Tätigkeitsfelder zu generieren.

Und dabei können diese auf

  • konkrete Ereignisse,
  • Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse,
  • Wertekonflikte,
  • Führungserfahrung,
  • berufliche Rahmenbedingungen etc.

zurückblicken.

Sie müssten vor diesem Erfahrungshorizont konkret benennen können, unter welchen Voraussetzungen sie das Gefühl haben, zufrieden einer Tätigkeit nachzugehen, die ihren Eigenschaften und Stärken entspricht und ihnen sinnstiftend erscheint.

 

Jugendlichen fehlen solche Referenzerlebnisse, um auf dieser Basis kluge vorberufliche Entscheidungen zu treffen und Lebenszukunftsmodelle zu entwerfen.

 

Daher wird Bestätigung von außen gesucht:

In einer Beratung, wo mir jemand sagt, wo ich beruflich hin will, oder noch „besser“: in einem Test, wo mir – vermeintlich – ein Algorithmus ausrechnet, was gut für mich ist.

 

Auf der Schwelle von der Schule in das Unbekannte, das noch zu ermitteln ist, stehen junge Menschen an einem einschneidenden, lebensverändernden Übergang, der zurecht als Krise bezeichnet werden kann.

 

Wie diese Krise durchschritten wird, hängt von den eigenen inneren und äußeren Bewältigungsressourcen ab.

 

Berufliche Orientierungsberatung beinhaltet daher auch immer Anteile von Krisenberatung bzw. Krisencoaching, auch wenn das den Beratenden und den Ratsuchenden nicht immer bewusst ist. 

 

Was zeichnet eine persönliche Krise aus?

Mein Definitions-Vorschlag: 

  

Eine Person bewertet ihre Umstände als Krise, wenn sie ein bedeutsames Problem mit ihren bisherigen Bewältigungsstrategien nicht lösen kann und sich als überfordert wahrnimmt.

 

Was zeichnet eine Krise im Kontext der beruflichen Orientierung aus?

Nehmen wir Jugendliche zwischen Schule und Ausbildung/Studium:

Möglicherweise (noch) Pubertierenden wird eine lebensverändernde Entscheidung abverlangt:

 

Was willst Du werden?

 

Dabei wissen sie in dem Alter noch nicht einmal, was oder wer sie gerade sind.

  • Ihnen fehlen valide Referenzerfahrungen, wie eine solche weitreichende Entscheidung zu treffen ist, und
  • sie kennen den Ausbildungsmarkt und die Studiengänge oft nicht in ausreichendem Maße.
  • Fehlende Information stellt ein Hindernis dar, Recherchekenntnisse fehlen häufig.

Die beliebtesten Ausbildungsberufe (von mehr als 400) sind seit Jahren mehr oder weniger konstant und fantasielos: Pflegefachleute, Fachinformatiker/in, Kaufleute im Einzelhandel oder Büromanagement, KfZ-Mechatroniker/in, Automobil-, Bank- oder Industriekaufleute, Kaufleute für Versicherungen und Finanzanlagen.

 

Jugendliche werden, mit Verlaub, in der Schule tendenziell nicht zur eigeninitiativen Selbstexploration und Selbstbestimmung angehalten, auch nicht zum vorausschauenden Planen oder zur Eigenverantwortung.

 

Daher befassen viele sich mit der Frage, wie es nach der Schule weitergehen soll, erst zu spät.

 

Mit dem Schulabschluss ist es wie mit Weihnachten, beides kommt immer so plötzlich.

 

Und dann drängt irgendwann die Zeit, und es wird ein fantasieloses Geschenk, das mit dem Beschenkten nichts zu tun hat... – ach nein – eine fantasielose Berufswahl, die mit der eigenen Persönlichkeit und den eigenen Vorlieben nichts zu tun hat, getroffen.

 

Schade eigentlich.

 

Mit intensiver und ernst gemeinter Auseinandersetzung hätte es ein Geschenk – ein Beruf – werden können, mit dem die Person vielleicht viele Jahre glücklich geworden wäre.

 

Was wäre zu tun?

  • Jugendliche mit ihren individuellen Fähigkeiten und Neigungen ernst nehmen,
  • sie ermutigen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen statt sich zu vergleichen,
  • sie ermuntern, ihre Ressourcen und ihre Bedürfnisse zu reflektieren,
  • sie ergebnisoffen begleiten,
  • ihnen sagen, wohin sie schauen könnten – ohne ihnen zu sagen, was sie sehen müssen.

Nehmen wir erwachsene Arbeitssuchende, die sich neu- oder umorientieren wollen oder müssen:

Bei mancher Biografie sind Beratende versucht, sich die Frage zu stellen:

 

Ist die Krise das eigentliche Lebenskonzept?

 

Es scheint sie zu geben:

  • die geborenen Pechvögel,
  • die Dauergemobbten,
  • die Sich-selbst-Mobber,
  • die ewig Missverstandenen,
  • die ständig Ausgenutzten, Verlassenen und Betrogenen,
  • die chronisch Kranken,
  • die grundsätzlich Wütenden und Anklagenden,
  • die immer Unzufriedenen und Argwöhnischen,
  • die Opfer, deren Opferhaltung so reich an Täterschaft ist, dass sie andere Menschen für die eigene Misere verantwortlich machen und dafür einspannen, sie dort herauszuholen, nur damit sie postwendend die nächste Krise heraufbeschwören können.

So wird die berufliche Orientierung für die Person in der Beratung lediglich eine Krise von vielen, und daher kann sich die Überwindungsmotivation dieses beruflichen Aspekts im Krisendschungel des als unfair und unsicher erlebten Lebens schon einmal relativieren.

 

Manche Arbeitssuchende erleben sich in einer permanenten, belastenden, krisenhaften Stresssituation.

Sie haben vielleicht eine diffuse Idee davon, dass sie daran einen Anteil haben, fühlen sich aber nicht in der Lage, ihre Lebenssituation zu verändern, zum Teil, weil sie tatsächlich nicht über ausreichende Selbstregulationsfähigkeiten verfügen, zum Teil, weil sie über die Zeit hinweg ein destruktives Selbstbild entwickelt haben, das ihnen die eigene Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit abspricht.

 

War wäre zu tun?

  • Die Vorbehalte und Einwände ernst nehmen,
  • Vertrauen aufbauen,
  • bedenken, dass jegliches Verhalten eine Bewältigungsstrategie ist,
  • das Gegenüber nicht an den eigenen Wertvorstellungen und Lebenshaltungen messen,
  • nichts erwarten,
  • den Blick auf die – und seien sie auch noch so klein – positiven Aspekte, günstige Momente, Ressourcen und Erfolge lenken,
  • anerkennen, dass alle Menschen die selben Grundbedürfnisse haben und mit ihrem Verhalten versuchen, diese zu befriedigen,
  • den Weg der kleinen Schritte gehen, im Tempo und aus der Perspektive des Gegenübers.

Nehmen wir bis dato erfolgreiche Arbeitnehmende, denen plötzlich gekündigt wird:

Bis zu Kündigung war in der Wahrnehmung der Betroffenen die berufliche Welt noch in Ordnung.

  • Die Tätigkeiten machten (zumeist) Freude, entsprachen den eigenen Fähigkeiten und Interessen.
  • Die TeamkollegInnen teilten dieselben Werte,
  • die Arbeitsatmosphäre war angenehm,
  • die Bezahlung angemessen.
  • Die Personen und ihre Positionen waren anerkannt,
  • die Leistung wurde wertgeschätzt.
  • Kurzum, die berufliche Identität schien gesichert.

Und dann: Kündigung aus betrieblichen Gründen.
Das zieht den Boden unter den Füßen weg.

  • Das über Jahre hinweg aufgebaute Rollenbild – verschwunden.
  • Die verantwortungsvolle, identitäts- und sinnstiftende Tätigkeit – weggenommen.
  • Die berufliche Zukunft – in Luft aufgelöst.
  • Die finanzielle Sicherheit, der Lebensstandard – ins Wanken geraten.

Statt dessen ist es nun notwendig,

  • sich erneut zu erforschen,
  • die berufliche Identität neu zu erfinden,
  • sich vielleicht ein letztes Mal im Leben die so essentielle Frage zu stellen:

Was willst Du wirklich wirklich tun?

 

Vielleicht ist das die letzte große Chance,

  • Bilanz zu ziehen und sich noch einmal zu verwirklichen, einzubringen,
  • das berufliche und private Leben neu zu gestalten.

Da stellen sich viele Fragen und so manch eine/r kann die unsichere Schwebesituation von „Das eine bin ich nicht mehr, etwas anderes bin ich noch nicht.“ kaum aushalten.

 

Und doch ist es gerade bei Berufserfahrenen wichtig, sich zuerst Klarheit zu verschaffen über

  • die eigenen Kompetenzen und vor allem
  • die eigenen Interessen, Vorlieben und Werte.

Es ist im Sinne der nachhaltigen Beschäftigungsfähigkeit zielführender, das eigene Alleinstellungsmerkmal herauszuarbeiten, dafür etwas Zeit zu verwenden, um dann wirklich genau zu wissen, in welche Richtung es nun geht.

 

Allemal besser, als sich mit wilden Aktionismus wahllos zu bewerben, nur um wieder einen Job zu haben.

Das Leben ist zu kurz für einen schlechten Job, der nicht zu mir passt.

 

War wäre zu tun?

Sich fragen:

  • Was tue ich gerne?
  • Wie tue ich die Dinge gerne?
  • Wozu tue ich das gerne? Worin besteht der Sinn für mich?
  • Was interessiert mich?
  • Nach welchen Werten strebe ich?

 

Dies sind nur drei Beispiele. Egal aus welcher Situation eine berufliche Orientierung ansteht: Die Fragen, sind immer dieselben. Und im TalentKompass-Prozess werden sie beantwortet.😉

 

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